2.

 

Es fiel Ryo heute Morgen schwer sich zu konzentrieren. Er bekam kaum wirklich mit, was Barclay ihnen bei der Dienstbesprechung zu sagen hatte. Dee stand direkt neben ihm und er musste zugeben, dass er am liebsten den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Seine Gedanken wanderten zur letzten Nacht. Es wurde mit jeden Mal schöner, mit Dee zu schlafen. „Es gibt da einige Dinge, die du sehr genießen wirst“, hatte Dee bei ihrem zweiten Mal zu ihm gesagt und er hatte Recht behalten. Mittlerweile sehnte er sich ständig nach Dees Berührungen. Sogar jetzt in diesem Moment. Er schlief auch nicht mehr gut, wenn Dee nicht neben ihm lag. Sein Bett kam ihm dann immer viel zu groß vor.

Dee wusste mittlerweile ganz genau, wie er ihn berühren musste, welche Stellen er küssen musste, um ihn aufs Höchste zu erregen. Ryo errötete leicht. Warum musste er ausgerechnet jetzt daran denken? Schnell versuchte er sich wieder auf Barclay Roses Worte zu konzentrieren. Schließlich war er noch nicht im Urlaub. Leider.

Es ging einfach nicht. Er konnte nicht richtig zuhören. Er war zu abgelenkt und auch zu müde. Bis sie gestern Nacht eingeschlafen waren war es ziemlich spät geworden. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sie hatten noch lange nicht Feierabend. Es war ja noch nicht einmal Mittag. Warum war er nur in letzter Zeit so schlapp?
Dee bemerkte natürlich sofort, dass etwas nicht in Ordnung war und warf ihm einen besorgten Blick zu. Ryo versuchte zu lächeln, was allerdings etwas misslang.

Doch dann kam Rose auf Kyle Brower, ihren aktuellen Fall zu sprechen und plötzlich fiel es Ryo nicht mehr  schwer aufmerksam zu sein. Dieser Fall nahm ihn besonders mit. Nicht nur, weil Brower zu dem Mafiaring gehörte, der für den Tod seiner Eltern verantwortlich war. Brower hatte ohne zu zögern zwei kleine Mädchen, etwa in Bickys Alter getötet, um sich selbst zur Flucht zu verhelfen. Brower bekam von seinem Ring keine Unterstützung mehr, da er ihnen wahrscheinlich selbst zu gefährlich geworden war und war auf eigene Faust auf der Flucht. Da er dabei vor nichts zurückschreckte, mussten sie unglaublich vorsichtig sein.

Ryo wollte Brower so gerne noch festnehmen, bevor ihr Urlaub begann. Er hatte das Gefühl, dass der Fall ihn sonst die ganze Zeit nicht loslassen würde. Aber ihre Chancen standen nicht besonders gut.

Dabei waren sie schon zwei Mal kurz davor gewesen ihn fest zu nehmen. Einmal war es Ryo sogar gelungen ihn anzuschießen, aber da Brower eine Geisel genommen hatte, hatte er entkommen können. Jetzt standen ihre Chancen wieder schlechter, da es ihm gelungen war, unterzutauchen.

Dieser Fall zehrte an Ryos Nerven, wie lange keiner mehr. Als er Brower gegenübergestanden hatte, hatten sich ihre Blicke für einen Augenblick getroffen. Seine Augen waren von einer seltsam dreckigen Farbe und wirkten trübe. Seine fleischigen Lippen hatten sich zu einem Grinsen verzogen und gelbliche Zähne enthüllt. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen, aber das Bild hatte sich in Ryos Gehirn eingebrannt. Brower hatte auf ihn geschossen, aber er hatte ausweichen können und dann seinerseits geschossen. Was, wenn er ihn damals tödlich getroffen hätte? Wäre dann jetzt alles vorbei? Er hätte es tun können. Nachdem Brower auf ihn geschossen hatte, wäre es Notwehr gewesen. Trotzdem hatte er nur auf das Bein gezielt. Sie hätten Brower damals gehabt, wenn er nicht diese kleine Geisel genommen hätte . . .

Dankbar fühlte er, wie Dee ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn leicht stütze. Er schloss für einen Moment die Augen und hörte auf Roses Worte.

„Brower gilt als höchst gefährlich. Unsere Profiler haben herausgefunden, dass er keinerlei Moralvorstellungen oder Gewissensbisse mehr hat. Für ihn geht es ums nackte Überleben und er ist bereit alles dafür zu opfern. Wir müssen damit rechnen, dass sein Geist nicht so arbeitet, wie der eines normalen Menschen. Als er noch für die Mafia gearbeitet hat, war es sein Job Leute ausfindig zu machen, zu verfolgen und zu töten. Er ist völlig skrupellos. Unterschätzen sie ihn niemals." Rose machte eine bedeutungsvolle Pause. "Drake und JJ übernehmen ab nächster Woche den Fall von Dee und Ryo. Damit ist die Sitzung für heute beendet. Ryo, mit ihnen würde ich gerne noch ein paar Worte wechseln. Kommen sie bitte in mein Zimmer.“ Rose verschwand in seinem Büro und die anderen verließen das Besprechungszimmer.

Ryo sah Rose überrascht nach und Dee knurrte leise neben ihm. „Was will der schon wieder von dir?“ Ryo zuckte die Schultern.

„Ich warte vor dem Büro“, erklärte Dee. „Wenn irgendetwas ist, schrei.“

„Danke, aber ich kann auf mich selbst aufpassen“ sagte Ryo bestimmt. „Außerdem wird Rose wohl kaum in seinem Büro über mich herfallen.“

Dee sah ihn skeptisch an. Offensichtlich hatte er da so seine Zweifel. „Ich warte trotzdem. Wir können danach zusammen etwas essen gehen, oder?“

Ryo nickte. Er hatte im Grunde nichts dagegen, wenn Dee auf ihn wartete.

Gespannt was Rose von ihm wollte, folgte er ihm in dessen Büro, das direkt an das Besprechungszimmer angrenzte.

Rose lehnte an seinen Schreibtisch und blätterte in einer Akte, als Ryo eintrat. Er schloss die Tür hinter sich und Rose sah auf. Seine stechenden Augen musterten ihn durchdringend. „Wie geht es ihnen Ryo?“ fragte er. „Sie sehen nicht gerade gut aus, im Moment.“

Ryo seufzte innerlich auf. Jeder sagte das in letzter Zeit. Er musste wirklich schlimm aussehen. „Ich brauche wahrscheinlich einfach Urlaub.“

Rose nickte und kam auf ihn zu, ihn immer noch sehr genau musternd. „Nicht, dass sie noch krank werden, bevor ihr Urlaub beginnt. Jedenfalls sollten sie sich in den nächsten Tagen etwas schonen.“

Ryo sah überrascht auf. Es war normalerweise nicht Roses Art, seinen Detectives zu empfehlen, sich zurück zu halten.

„Das meine ich ernst Ryo. Ich weiß, dass sie sich in dem Fall Brower sehr bemühen, aber sie werden ihn nicht mehr schnappen, bevor sie in den Urlaub fahren. Halten sie sich lieber etwas zurück und bringen sie sich nicht selbst in Gefahr. Kommen sie lieber erholt und mit frischen Kräften wieder.“ Rose trat noch einen Schritt näher und jetzt wäre Ryo gerne zurückgewichen, aber das hielt er für unhöflich. „Ich möchte ihnen keine Angst einjagen“ Roses Stimme war seidig und sehr dicht an seinem Ohr. „Aber Brower ist dafür bekannt, dass er sehr rachsüchtig ist. Es kann durchaus sein, dass er es auf sie abgesehen hat. Schließlich haben sie ihn schon einmal angeschossen.“

Ryo war nun doch ein paar Schritte zurückgewichen, stand dadurch jetzt aber unglücklicherweise mit dem Rücken zur Wand. Rose war jetzt tatsächlich erschreckend nahe und für einen Moment überlegte er, wirklich nach Dee zu rufen, aber das wäre ihm doch zu albern vorgekommen. „Ich werde auf mich aufpassen.“ Er versuchte zur Seite auszuweichen, aber Rose lehnte einen Arm neben ihn an die Wand. Jetzt konnte er auch sehr deutlich den Duft seines After Shaves wahrnehmen.

‚Wenn er wieder versucht mich zu küssen, fängt er sich eine’ dachte er entschlossen. „Kann ich jetzt gehen?“

„Warum denn so eilig?“ fragte Rose sanft. „Wartet dein kleiner Wachhund etwa auf dich?“

Ryo entging nicht, dass Rose jetzt auf die förmliche Anrede verzichtete. „Dee ist nicht mein Wachhund“ sagte er scharf. „Aber er wartet auf mich. Wir wollen gleich zusammen Mittag essen gehen.“

„Mir schuldest du auch immer noch ein Essen“, flüsterte Rose.

In dem Moment flog lautstark die Tür auf und Dee trat ein. Seine Augen funkelten vor Wut. „Wusste ich’s doch“ zischte er, als er sah, wie Rose von Ryo zurückfuhr. „Möchte vielleicht jemand Kaffee?“ Die Tasse zitterte in seiner Hand und es hätte wohl nicht viel gefehlt, dass er sie Rose über den Kopf gekippt hätte. „Ich dachte ich frag mal.“

„Wie aufmerksam von ihnen“ sagte Rose ironisch. „Nein Danke.“

Ryo hielt es für besser schnell zu verschwinden. Dee bebte immer noch vor Wut „Lass uns essen gehen, Dee.“ Er nahm ihn am Arm und zog ihn hinter sich aus der Tür.

Dee stampfte wütend neben ihn durch die Gänge, ohne ein Wort zu sagen. Ryo konnte hören, wie er mit den Zähnen knirschte.

„Ich bin froh, dass du gekommen bist“ sagte er sanft.

Dee drehte sich nicht zu ihm. „Ach wirklich? Dir schien es nicht allzu viel auszumachen, von ihm in die Ecke gedrängt zu werden.“

„Doch das hat es“ sagte Ryo ernst. „Ich war kurz davor ihm wieder eine zu knallen.“ Er wurde rot.

Dee stockte und drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht hatte augenblicklich einen begeisterten Ausdruck angenommen. „Wirklich? Dann hätte ich lieber noch warten sollen.“

Ryo schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin sehr froh, dass du gekommen bist. Wo wollen wir essen gehen?“

„Wie wärs mit dem chinesischen Restaurant gleich gegenüber?“

„Klingt gut.“ Ryo wollte den Weg zur Treppe einschlagen.

„Warte“ Dee hielt ihn am Arm zurück. „Lass uns den Aufzug nehmen.“

„Aber warum?“ Ryo sah ihn überrascht an. „Es sind nur zwei Stockwerke.“

Dee hatte bereits die Taste des Aufzugs gedrückt und lächelte ihn an. „Nur so.“

Die Türen öffneten sich und er zog Ryo hinein. Kaum hatten sich die Schiebetüren hinter ihnen geschlossen drängte er ihn gegen die Wand und küsste ihn auf die Lippen. „Der einzige der das darf bin ich“ flüsterte er.

„Dee, nicht im Dienst“ flüsterte Ryo zurück. „Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass ich das nicht will.“ Er machte allerdings auch keine Anstalten Dee zu entkommen. Es fühlte sich so unglaublich gut an. Genau das hatte er jetzt gebraucht. Unbewusst lehnte er sich gegen seinen Partner und schloss die Augen, um sich noch einmal küssen zu lassen. Er hatte Dees Küsse schon immer geliebt. Schon der allererste war etwas besonderes gewesen. Auch jetzt wieder wurden seine Knie weich und er war froh, dass Dees starke Arme ihn festhielten.

Keiner von beiden merkte es, als sich die Türen des Fahrstuhls zwei Stockwerke tiefer öffneten. Drake sprang erschrocken zurück und sie fuhren auseinander. Alle drei starrten sich etwas verdattert an.

„Entschuldigung“ stotterte Drake. „Ich wollte euch nicht stören.“

„Nein, wir müssen uns entschuldigen“ sagte Dee schnell und zog Ryo an ihm vorbei aus dem Auszog. Ryo war knallrot im Gesicht. Zwar wussten im Revier mittlerweile alle über sie Bescheid, aber er war dafür es nicht allen so auf die Nase zu binden. Dee sah das allerdings anders.

„Wie unangenehm“ murmelte Ryo.

„Ach Quatsch“ Dee grinste. „So bekommt der arme Drake auch mal ein bisschen Action. Ich wette er freut sich.“

„Bestimmt nicht.“ Ryo war immer noch rot. „Mach das bitte nicht mehr. Nicht im Revier.“

„Ich weiß gar nicht was du hast. Es wissen doch alle bescheid.“

„Ich mag es eben nicht so öffentlich.“

„Ist schon okay, ich weiß ja. Du sahst nur so aus, als könntest du etwas Zuneigung gebrauchen.“ Er lächelte Ryo an. „Komm ich lade dich ein. Dafür, dass du immer für mich kochst.“

 

*

 

Nach der Mittagspause fühlte Ryo sich deutlich erfrischter. Außerdem wusste er, dass er jetzt nur noch zweieinhalb Tage arbeiten musste, bis sie nach Canada fuhren und das gab ihm Auftrieb. Er sah von seinem Stapel Akten auf zu Dee, der am Schreibtisch gegenüber saß und konzentriert auf den Monitor seines Computers starrte.  Allerdings nur, weil er ein neues Computerspiel spielte.

„Dee“ sagte Ryo mahnend.

„Die Mittagspause dauert noch zwei Minuten“ erklärte Dee. „Bis dahin schaffe ich noch einen neuen Rek . . .“

Die Tür wurde aufgerissen und Drake stürmte hinein. „Einsatz. Wir sollen alle zum Tatort fahren. Wahrscheinlich Brower.“

Das reichte um Dee und Ryo auffahren zu lassen. Ryo fühlte wie seine Knie zitterten. Noch immer hasste er es zu Tatorten zu fahren. Ganz würde er sich wohl nie daran gewöhnen. Er war unglaublich froh, dass Dee dabei sein würde. Besonders, wenn es sich um Brower handelte.

Ziemlich weiß im Gesicht saß er auf dem Beifahrersitz, während Dee fuhr. Er hatte die Sirene angestellt und raste nur so durch die Straßen zum beschriebenen Tatort in einer verlassenen Fabrikhalle. Trotz des schnellen Tempos warf er hin und wieder besorgte Blicke zu Ryo.

„Konzentrier dich auf die Straße, Dee.“

„Geht es dir auch gut?“

„Ja. Hör auf mich das ständig zu fragen.“

„Dann hör auf so auszusehen, als wärst du kurz vorm Umkippen.“

„Sehe ich wirklich so schlimm aus?“

„Ja.“

„Ich bin einfach überarbeitet. Da vorne ist es.“ Ryo zeigte auf die Ansammlung von Polizeiwagen auf der Einfahrt zu einer der großen verdreckten Hallen.

Dee stoppte den Wagen direkt neben den anderen Fahrzeugen und stieg aus. Ryo folgte ihm. Seltsam. Alles drehte sich. Er musste sich einen Moment am Auto festhalten, um nicht umzukippen. Es war als könne er Browers Gegenwart noch spüren. Plötzlich wollte er nur noch weg hier.

„Laytner, McLain, hierher!“ rief jemand und Ryo folgte Dee, darauf konzentriert nicht zu stolpern. Was war nur los mit ihm? Er fühlte sich so wackelig auf den Beinen.

Sein Herz schlug wie ein Hammer gegen seine Brust, als sie sich dem Tatort näherten. Es war nie angenehm einen Tatort zu besichtigen, aber diesmal wäre er wirklich gern einfach umgedreht.

Da lagen sie. Ein Junge und ein Mädchen, kaum älter als Carol. Blutüberströmt und die Augen immer noch weit aufgerissen vor Entsetzen. Ryo wollte wegsehen, aber er konnte den Blick nicht von ihnen wenden.

„Wie lange sind sie schon tot?“ fragte Dee. Die Antwort des Gerichtsmediziners hörte Ryo wie durch eine Wand. Die Stimmen schienen sich zu vermischen und immer undeutlicher zu werden. Er starrte immer noch auf den Jungen und das Mädchen. Sie hatten beide helle Haare, in denen jetzt Blut klebte und ihre Gesichter waren von der Angst verzerrt. Sie mussten wahnsinnige Angst gehabt haben.

„Ryo?“ hörte er Dee wie aus weiter Ferne fragen. „Ryo? Ist alles in Ordnung?“

Plötzlich verschwammen die Gesichter der Opfer vor seinen Augen und begannen sich zu verändern. Das des Jungen wurde dunkler . . . und plötzlich sah er ganz deutlich Bicky und Carol da liegen, die ihn vorwurfsvoll aus ihren toten Augen anstarrten. Er schrie vor Entsetzen.

„RYO!“ hörte er Dee erschrocken rufen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Kraftlos sank er nach hinten in Dees Arme.

 

Kapitel 3

 

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