Verfolgt

1.

„Hi! Ich muss noch mal kurz weg!“ rief Bicky, der gerade aus seinem Zimmer gestürmt war in die Küche hinein. Ryo, der erst vor einer Viertelstunde nach Hause gekommen war, war gerade dabei die Nudeln in einen Topf mit kochendem Wasser zu kippen. „Wohin willst du denn jetzt noch? Es wird dunkel und das Essen ist gleich fertig.“

„Ich will nur schnell Carol abholen. Sie isst heute hier. Das ist doch in Ordnung?

Ryo nickte. „Wir haben sowieso zu viel.“

Bicky sah sich suchend im Zimmer um. „Ist Dee heute gar nicht zum Essen da?“

„Doch, natürlich. Er ist nur kurz nach Hause gefahren, um sich umzuziehen.“ Ryo kippte noch eine Prise Salz zu den Nudeln.

Bicky lehnte sich gegen den Türrahmen „Warum hat der eigentlich überhaupt noch eine eigene Wohnung? Er isst hier, schläft hier, hängt hier rum… Eigentlich kann er auch gleich hier einziehen.“

Ryo drehte sich überrascht um und vergaß die Nudeln für einen Augenblick. „Würde dich das denn nicht stören?“

„Wieso? Überlegt ihr das etwa wirklich?“ fragte Bicky misstrauisch.

„Nein, natürlich nicht“ antwortete Ryo hastig. Fast etwas zu hastig für Bickys Geschmack.

„Also das müsste ich mir noch mal überlegen“, sagte er langsam. „Vielleicht hätte ich gar nichts dagegen, wenn er hier einzieht. Ich geh jetzt Carol abholen.“

Bevor Ryo noch etwas erwidern konnte war er auch schon aus der Küche verschwunden und auf dem Weg die Treppe runter. Die Wohnungstür knallte lautstark hinter ihm zu. Ryo sah ihm überrascht nach.

Am Fuß der Treppe konnte Bicky gerade noch bremsen, um nicht mit Dee zusammen zu stoßen, der gerade auf dem Weg nach oben war. „Wo willst du denn noch hin?“ fragte er missbilligend. „Es wird schon dunkel.“

Bicky stöhnte auf. „Weißt du eigentlich, dass du schon genauso klingst wie Ryo? Ich will Carol abholen.“

„Ryo hat vollkommen Recht. Du weißt, dass es im Moment nicht sicher ist auf der Straße. Was dagegen, wenn ich mitkomme?“

Bicky schüttelte den Kopf. Zusammen traten sie in die mittlerweile ziemlich kühle Abendluft hinaus. Nachts spürte man bereits, dass der Winter nicht mehr allzu weit war. Dee steckte sich eine Zigarette an. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her.

„Sag mal Dee“ fragte Bicky plötzlich. „Du und Ryo … habt ihr vor zusammen zu ziehen?“

Dees Kopf fuhr zu ihm herum. „Wieso? Hat Ryo irgendwas davon gesagt?“ Er sah ihn gespannt an.

„Naja. Eigentlich habe ich gefragt warum du überhaupt noch eine eigene Wohnung hast, wenn du sowieso ständig bei uns bist.“

„Ach so…“ Dee sah ein klein wenig enttäuscht aus. „Und was hat Ryo dazu gesagt?“

„Er hat mich gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn du bei uns einziehst.“ 

„Ehrlich? Das hat er gefragt?“

„Ja. Hör auf zu grinsen. Du weißt ja noch gar nicht, ob ich etwas dagegen hätte.

Dee sah ihn grimmig an. „Das bekommst du fertig du kleine Ratte, dass du Ryo dazu bringst nicht mit mir zusammen zu ziehen.“

Bicky lächelte überheblich. „Naja, ich habe gedacht, ich mache das von unserem gemeinsamen Urlaub abhängig. Wenn wir uns da gut verstehen, dann darfst du vielleicht bei uns einziehen.“

Dee knirschte mit den Zähnen. „Du willst doch nur, dass alles nach deinem Kopf geht im Urlaub, hab ich recht? Aber ich lass mich nicht erpressen. Tu nicht so, als könntest du darüber bestimmen, ob ich mit Ryo zusammen ziehe!“

„Kann ich aber“ sagte Bicky frech grinsend. „Jedenfalls solange ich noch klein bin und Schutz brauche.“

„Du kleine Kröte…“ Dee schnappte nach seinem Arm, aber Bicky sprang geschickt aus dem Weg. „Na na das ist aber kein guter Anfang für unser Zusammenleben. Ryo will bestimmt nicht, dass wir uns…“

„Streitet ihr euch etwa schon wieder?“ fragte Carol genervt. Sie waren nur noch einige Straßen von ihrem Haus entfernt und sie kam ihnen entgegen..

„Hey, ich hab doch gesagt, ich hol dich ab. Du sollst doch nicht alleine draußen rumlaufen!“ rief Bicky.

„Es hat mir zu lange gedauert“ sagte sie mit einem Schulterzucken.

Auf dem Rückweg dachte Dee darüber nach, was Bicky erzählt hatte, während Carol und Bicky sich unterhielten. Dachte Ryo vielleicht wirklich darüber nach mit ihm zusammen zu ziehen? Das wäre ja fast zu schön, um wahr zu sein … Und vor allem war es das wert sich mal für zwei Wochen mit Bicky gut zu stellen. Auch wenn es vielleicht einiges kosten würde…

Ryo stellte gerade die Soße auf den Tisch, als sie ankamen. Wie immer gab es Dee ein angenehm warmes Gefühl in der Herzgegend, ihn zu sehen. Wenn er bei Ryo war, hatte er mehr als jemals zuvor in seinem Leben das Gefühl zu Hause zu sein. Ryo sah lächelnd auf. „Hallo Carol, hallo Dee.“ Er ging auf seinen Freund zu und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange.

„Schön, dass du da bist.“

Dee legte schnell einen Arm um Ryos Hüften und zog ihn zu sich. Er strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du siehst immer so müde aus in letzter Zeit. Geht’s dir gut?“

„Ich sehe auch nicht müder aus als du. Wir brauchen einfach beide Urlaub. Und es dauert ja nicht einmal mehr eine Woche.“

Dee nickte. „Kann ich noch irgendwas helfen?“

„Nein, es ist alles fertig. Setz dich.“

Dee setzte sich auf den Platz am Tisch, der mittlerweile sein eigener geworden war. Seltsam. Er hatte noch nie einen festen Platz an einem Tisch gehabt. Früher im Heim hatten sie sich immer da hin gesetzt wo Platz war und in seiner eigenen Wohnung gab es noch nicht mal einen richtigen Tisch. Er schluckte. Warum war es nur so ein schönes Gefühl einen festen Platz zu haben?

Beim Essen ließ er Ryo nicht aus den Augen. Sein Partner sah wirklich nicht gut aus. Ryo war einer der Polizisten, die sich nie an Verbrechen gewöhnen würden. Jeder Fall nahm ihn von neuem mit und Dee wusste, dass er oft auch nach Dienstschluss über die Fälle nachgrübelte. Morde machten ihm natürlich besonders zu schaffen. Und wenn es sich dann auch noch um Täter handelte, die auch vor Kindern nicht halt machten, wie in ihrem momentanen Fall, dann machte ihn das regelrecht fertig.

Dabei hatten sie Kyle Brower fast schon festgenommen. Er hatte fliehen können, weil er ein kleines Mädchen als Geisel genommen hatte. Dass Brower zu dem gleichen Mafiaring gehörte, in dem auch Leo, der Mörder von Ryos Eltern gewesen war, machte die Sache auch nicht einfacher.

Ryo hatte sicherlich noch nie so dringend Urlaub nötig gehabt. Selbst der Chef hatte eingesehen, dass sie eine Pause brauchten und ihnen ohne zu Murren gleichzeitig frei gegeben. Dee hatte noch nicht einmal darum betteln müssen.

„Noch drei Tage, dann können wir in Canada Lachse angeln und hier können sich andere herumärgern“, sagte Dee zufrieden. „Mann, werde ich froh sein, wenn am Freitag die Tür vom Revier hinter uns ins Schloss fällt.“  

„Bringst du mir Angeln bei?“ fragte Bicky aufgeregt.

„Hmmm, ich hab das selbst erst einmal gemacht, aber ich werds versuchen. So schwer war es nicht“, sagte Dee großzügig.

Ryo lächelte ihn an.

„Das wird einfach traumhaft", fuhr Dee fort, von Ryos Lächeln angespornt Wir haben die Hütte ganz für uns allein und weit und breit niemand anders. Das nächste Dorf ist kilometerweit entfernt. Wir müssen sogar selbst Holz hacken und abends können wir ein Feuer im Kamin anmachen. Ich hab gehört in diesen Holzhütten soll es irre gemütlich sein.“

„Wir wollen aber lieber im Zelt schlafen.“ Warf Bicky ein. „Vor der Hütte.“

„Könnt ihr ja“ Dee grinste zufrieden. Dieses Arrangement war ihm nur zu recht.

„Wir müssen daran denken genug Vorräte mit zu nehmen“ meinte Ryo. „Nur für den Fall, dass ihr nicht genug Fische fangt, natürlich.“

Er räumte die Teller zusammen und stand auf.

Dee hielt seinen Arm fest. „Setzt dich wieder. Ich mach den Abwasch.“ Er sah Bicky mit einem breiten Grinsen an. „Und Bicky und Carol helfen mir sicher gern dabei.“

„Ja natürlich“ Bicky warf ihm einen grimmigen Blick zu, machte sich aber ohne ein weiteres Wort daran die Teller abzuräumen. Er wusste ja selbst, dass es Ryo in letzter Zeit nicht so gut ging.

Zu dritt war der Abwasch fast schneller geschafft, als Dee lieb war. Schließlich hieß das, dass er jetzt in seine eigene kalte Wohnung zurück musste. Er fröstelte schon beim Gedanken daran.

„Das Essen war wie immer toll.“ Er ging lächelnd auf Ryo zu, um sich zu verabschieden. Insgeheim hoffte er natürlich, dass Ryo ihn zum Bleiben auffordern würde.

„Willst du etwa schon gehen?“ fragte Ryo ehrlich enttäuscht.

„Naja, wir haben morgen noch Dienst und müssen früh raus“ sagte Dee vorsichtig.

„Dann schlaf doch hier.“

Dees Herz machte einen kleinen Sprung. Ja! Ryo hatte es gesagt. Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er darüber war. „Wirklich? Ich habe die ganzen letzten Tage hier geschlafen...“

„Ja wirklich. Außerdem funktioniert deine Heizung nicht.“

„Ach, die hätte ich sowieso nicht angemacht.“

„Und du müsstest durch den Regen nach Hause gehen.“

„Es hat schon vorhin aufgehört zu regnen.“

„Und von hier aus ist es näher zum Revier.“

„Ryo?“ sagte er sanft „Wenn du möchtest, dass ich hier schlafe, dann sag es doch einfach.“

„Okay.“ Ryo lächelte. „Ich möchte gern, dass du hier schläfst.“

Bicky sah zwischen Ryo und Dee hin und her. Waren Erwachsene immer so kompliziert? Als er merkte, dass sie sich gleich küssen würden zog er Carol hinter sich her in sein Zimmer. Das mussten sie sich nun wirklich nicht auch noch angucken.

Kaum waren sie aus dem Zimmer verschwunden, ließ Dee sich neben Ryo auf dem Sofa nieder. Er streichelte mit einer Hand über die kleinen Härchen an Ryos Nacken und wusste, dass das einen wohligen Schauer über Ryos Rücken jagen würde. Langsam zog er ihn näher zu sich.

Er wusste mittlerweile, dass sein Partner es meistens nicht so gern mochte, von ihm überfallen zu werden. Aber Ryo konnte einfach nicht widerstehen, wenn er sanft verführt wurde. So auch dieses Mal. Sehnsuchtsvoll schloss er die Augen, kurz bevor ihre Lippen sich berührten. Dee fühlte Gänsehaut an seinem ganzen Körper. Schon der erste Kuss damals mit Ryo war anders gewesen, als sämtliche Küsse vorher. Damals schon hatte er gewusst, dass er niemals wieder jemand anders küssen wollte. Obwohl sein Arm gebrochen gewesen war, hatte er plötzlich keinerlei Schmerzen mehr gefühlt. Und  . . .  auch wenn Ryo es niemals zugeben würde . . .  er hatte schon bei ihrem allerersten Kuss zurückgeküsst. Wenn auch nur sehr vorsichtig.

Nicht zu vergleichen mit jetzt. Zu Dees Überraschung und Freude küsste Ryo ihn diesmal wirklich sehr intensiv. Er hatte die Arme um ihn gelegt und zog ihn dichter an sich, während seine Zunge fordernd über Dees Gaumen strich. Was für ein tiefer, wundervoller Kuss. Dee fühlte sich völlig versunken. Mittlerweile kannte er das: Wenn Ryo sehr geschafft war, oder sehr verstört, dann brauchte er ihn ganz nah bei sich und Dee liebte diese Momente, in denen er wusste, dass Ryo wirklich ihm gehörte. Ihm ganz allein.

Ryo ließ von ihm ab und seine Augen waren dunkel vor Erregung. Dee wurde ganz schwindelig. Er war immer noch nicht ganz daran gewöhnt, dass Ryo jetzt manchmal ganz offen zeigte, wie sehr er ihn begehrte. Immer noch konnte er es nicht ganz glauben

„Ins Bett?“ flüsterte er heiser. Ryo nickte.

Kapitel2

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